Wachstum und Rückenmark

Während des normalen Wachstums verändert das im Wirbelkanal liegende Rückenmark seine Lage: bei der Geburt liegt die untere Spitze des Rückenmarkes in Höhe des 3. – 4. Lendenwirbelkörpers. Nach Abschluss des Wachstums liegt die Rückenmarksspitze in Höhe des 1.-2. Lendenwirbels. Wird das Rückenmark an dieser natürlichen Verlagerung gehindert, besteht die Gefahr, dass neurologische Störungen (z.B. zunehmende Lähmungen) auftreten.

Was ist ein festgewachsenes (fixiertes) Rückenmark oder „tethered cord” ?

Mit diesem Begriff des „festgewachsenen” oder „gefesselten” (engl.: tethered) Rückenmarkes wird bei bestehender Spaltbildung der Wirbelsäule eine krankhafte Verwachsung des Rückenmarkes, von Rückenmarksteilen oder Nerven mit der Haut oder Teilen der Haut (z.B. Fett) bezeichnet. Diese kann bereits vor der Geburt bestehen („primäres tethered cord”) oder durch Narbengewebe (nach Operationen) im Bereich von Spaltbildungen der Wirbelsäule entstehen oder verstärkt werden („sekundäres tethered cord”). Durch jede Form der Verwachsung wird die natürliche Verlagerung des Rückenmarkes gehemmt oder unmöglich gemacht.  Hierdurch kann eine krankhafte Dehnung des Rückenmarkes entstehen, die das Rückenmark schädigt. Diese Schädigungen sind an zunehmenden neurologischen Störungen (Störungen der Grundspannung der Muskulatur, Muskellähmungen, Veränderungen der Harnblasenneurologie u.a.) erkennbar.

Bei wem kann eine Verwachsung auftreten?

Bei einer offenen Spaltbildung (Spina bifida aperta) oder geschlossenen Spaltbildung (Spina bifida occulta) der Wirbelsäule können Verwachsungen des Rückenmarkes entstehen.

Häufigkeit

Nach den bisherigen Untersuchungen/Erfahrungen liegt diese Störung etwa bei nahezu allen Spina bifida-Patienten vor, aber nur bei wenigen tritt ein behandlungsbedürftiger Zustand auf.

Zeitpunkt der Entstehung der Verwachsung

Allgemeine Hinweise zu den Auswirkungen des tethered Cord finden Sie im Artikel Beobachtungen-Hinweise-Symptome zum tethered Cord.

Spina bifida aperta (“offener Rücken”): 

Bei nicht operierten Patienten: Das Rückenmark wird frühzeitig in die narbigen Schrumpfungen einbezogen, wenn sich die Ausstülpung am Rücken (Cele) zurückbildet d.h. die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, dass zusätzliche neurologische Störungen entstehen.
Bei operierten Patienten: Wahrscheinlich verwächst das Rückenmark bei den Wundheilungsvorgängen nach der Erstversorgung der Rückenmarksspalte, d.h. ca. 3 Wochen nach  der Rückenoperation dürfte die Verwachsung voll ausgebildet sein.

Spina bifida occulta („geschlossene Spaltbildung”) 

Bei nicht operierten Patienten: Bisher ist keine sichere Aussage darüber möglich, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit Verwachsungen zwischen dem Rückenmark und der Wirbelsäulenspalte auftreten. Bei bekannter S.b.o. ist  eine Rückenmarksverwachsung möglich. Deshalb ist eine kernspintomographische Untersuchung zumindest der gespaltenen Wirbelsäulenregion sinnvoll, auf der erkennbar sein muss, ob und in welchem Umfang das Rückenmark Verwachsungen zeigt. Danach muss entschieden werden, welche weiteren Untersuchungen (s.u.) und Maßnahmen notwendig sind.
Bei operierten Patienten: Eine Verwachsung zwischen Operationsnarbe und Rückenmark ist gehäuft, wenn auch nicht immer zu erwarten. Auch hier ist eine kernspintomographische Untersuchung auszuführen, nach der dann das weitere
Untersuchungsprogramm festgelegt werden muss.

Wie entsteht eine neurologische Schädigung?

Durch krankhafte Dehnung des Rückenmarkes kann Nervengewebe zerreißen und/oder durch eine verschlechterte Durchblutung verkümmern. Hierdurch können neurologische Störungen aller Schweregrade entstehen.

Wie kann die Verwachsung objektiv festgestellt werden?

Ist eine Verwachsung des Rückenmarkes zu vermuten, sollte die Diagnose durch ein Kernspintomogramm (=schichtweise Darstellung der zu untersuchenden Wirbelsäulenabschnitte durch eine röntgenfreie Methode) gesichert werden. Die Untersuchung kann in jedem Alter ohne schädliche Nebenwirkungen erfolgen. Eine wesentliche Voraussetzung für eine einwandfreie kernspintomographische Darstellung ist, dass der Patient während des Untersuchungsganges möglichst ruhig und bewegungsfrei liegt. Bei Säuglingen, Kleinkindern und „ängstlichen” Kindern (Jugendlichen und Erwachsenen) ist deshalb oft medikamentöse Dämpfung (Sedierung), ausnahmsweise auch eine Narkose erforderlich.

Überwachung der Hinweise auf ein tethered cord

Ist eine Verwachsung des Rückenmarkes durch hinweisende Symptome zu vermuten oder kernspintomographisch festgestellt, sollte eine regelmäßige ärztlich-neurologische Überwachung erfolgen. Die Untersuchungsabstände werden je nach Alter des Kindes/Jugendlichen/Erwachsenen festgelegt und sollten während des Wachstums einen Zeitraum von 6 Monaten nicht überschreiten und nach Abschluss des Wachstums längstens im Jahresabstand erfolgen.

Inhalte der Überwachung

Die Hinweise und Folgen von Rückenmarksverwachsungen sind bis heute nur zum Teil bekannt. Die empfohlenen Untersuchungen haben das Ziel, bekannte und vermutete Hinweise (Symptome) auf eine Schädigung möglichst früh zu erfassen.

Die Überwachung beruht
1. auf einer sorgfältigen Erhebung der Vorgeschichte
2. auf einer gezielten Beobachtung
3. auf neurologischen Untersuchungsmethoden
4. auf technisch-neurologischen Verfahren
4.1  elektrophysiologische Untersuchungen
4.2  Überprüfungen des Spannungszustandes des Rückenmarkes mit Ultraschall

Früherfassung und Ausmaß der Lähmung

Die Untersuchungsmöglichkeiten hängen wesentlich vom Ausmaß der bereits bestehenden neurologischen Schäden ab: bei einer weitgehend kompletten Lähmung lassen sich entstehende weitere Schäden oft nur relativ spät sicher nachweisen.
Bei fehlenden, nicht erkennbaren oder nur geringfügigen neurologischen Vorschädigungen gelingt die Früherkennung von voranschreitenden neurologischen Ausfällen jedoch bereits in einer Zeit, in denen noch keine schwerwiegenden neurologischen Ausfälle entstanden sind. Um jedoch keine beginnende oder fortschreitende Störung zu übersehen, muss eine regelmäßige sorgfältige neurologische Überwachung erfolgen. Die Abstände zwischen den Kontrollen müssen je nach Krankheitsverlauf und Befund individuell festgelegt werden, sollten aber – wie oben beschrieben – während des Wachstums in der Regel einen Zeitraum von 6 Monaten nicht überschreiten. Nach Abschluss des Wachstums sind die neurologischen Kontrollen im Jahresabstand angezeigt.